Anderlecht demonstrierte einen modernen Defensivstil mit ständig hoher Torgefahr
Weltklasse-Angriffsduo Mulder-van Himst versetzte der Karl-Marx-Städter Abwehr einen Schrecken nach dem anderen
Der Europapokal ist nicht die Zeit zum träumen. Er verlangt den bestmöglichen Einsatz aller individuellen und kollektiven Stärken, wenn die Stunde schlägt. [..] Cheftrainer Horst Scherbaum ließ daran keinen Zweifel, und er wies vor dem Beginn noch einmal mit allem Nachdruck auf das Prinzip hin, das seine Männer zu beherzigen gedachten: "Unser Gegner verkörpert beste europäische Klasse. Um ihm Paroli zu bieten, müssen wir - in guter körperlicher Verfassung - über Kondition, Ehrgeiz und Kampf zum Spiel finden." Ein löblicher Vorsatz, gewiß. Und die guten Absichten des FCK etwa in Frage zu stellen, hieße ihm bitter unrecht zu tun. Aber wer allein die wenigen Worte Scherbaums richtig durchdenkt, stößt sofort auf die Stärken und Schwächen unseres Fußballs, auf das, was uns auszeichnet, und auf das, was uns von der europäischen Spitze trennt.
Kraft, Ehrgeiz und Kampf mögen genügen, wo der Gegner über die gleichen spielerischen Mittel verfügt. Über diese Eigenschaften läßt sich dann auch zum Spiel finden. Das ist ebensowenig eine neue Weisheit wie die in unseren Breitengraden immer wieder zu beobachtende Erscheinung, daß wir einen enormen physischen und psychischen Aufwand mit relativ bescheidenem spielerischem Nutzen betreiben. Und nicht zuletzt daran scheiterte auch der FCK gegen den 13fachen belgischen Meister, mußte er zwangsläufig scheitern. [..] Mit 42 Länderspielen ist Dieter Erler unser Rekordinternationaler. Eine stattliche Zahl, ohne Zweifel. Doch im zumeist sonnendurchfluteten Ernst-Thälmann-Stadion stand eine Anderlechter Elf, die insgesamt 245 Länderspielberufungen auf ihrem Konto hat [..] und die mit dem hervorragenden Durchschnittsalter von 25,7 Jahren beste internationale Klasse verkörperte.
Gegen diese erfahrene, clevere Elf eine Fülle von Fehlern zu begehen, mußte sich schwer rächen. Scherbaum nannte die gravierendsten, ohne etwas zu beschönigen: "Unsere Hauptschwäche ist, daß wir gegen Defensivkonzeptionen keine Gegenmittel finden. Da wir zu Hause ja angreifen mußten, taten sich zwangsläufig Lücken für den Gegner auf. Feister und A. Müller wurden leider von Mulder und van Himst immer wieder ausmanövriert, so daß wir den Belgiern zwei sehr billige Tore gestatteten. Das durfte ganz einfach nicht passieren." Anderlechts Qualitäten waren die Schwächen der Karl-Marx-Städter. Die Belgier waren auf die Minute topfit, verfügten über eine glänzende Ball- und Körperbeherrschung, Individualismus und Teamwork prägten ihren einfallsreichen, eleganten wie wuchtigen Stil.
Hanon und Plaskie begingen nie den Fehler, aus dem Abwehrzentrum herauszutreten und freie Räume anzubieten. Der Kongolese Kialunda und Brillenträger Jurion beherrschten das Mittelfeld in unvergleichlicher Manier. Jurion schloß ganz selten zum eigenen Angriff auf. Dafür aber schlug er zentimetergenaue Steilpässe, die eine Augenweide waren. Noch angetaner war Anderlechts ungarischer Trainer Andras Beres allerdings von Kialunda. "Er hatte die Aufgabe, sich vornehmlich auf Erler zu konzentrieren. Keinem anderen wie ihm wäre es so gut gelungen, den Karl-Marx-Städter Angriffsregisseur zu beschatten." Kialunda verlor Erler nie aus den Augen, wenn der FCK im Ballbesitz war. Stürmte jedoch Anderlecht, löste er sich sofort und suchte die Offensive. Der schlanke, geschmeidige Kongolese bot eine interessante Studie perfekten Mittelfeldspiels von gleich starker Abwehr- und Angriffswirkung.
Wenn jedoch in dieser Auseinandersetzung etwas geradezu zum Erlebnis wurde, dann das Angriffsspiel von Mulder und van Himst. "Ihr gegenseitiges Verständnis, ihr kluges Aufeinandereingehen, ihr Mitdenken in jeder Aktion imponierten mir ungemein", sagte DFV-Vizepräsident Günter Schneider nach dem Abpfiff. Beide waren kaum vom Ball zu trennen. [..] Durch Mulders und van Himsts Stoßkraft taumelte die FCK-Abwehr von einer Unkonzentriertheit in die andere. Und da auch im Mittelfeld Posselt, Steinmann und Erler unter ihren Möglichkeiten blieben, kamen Kreul (nur Notlösung für den verletzten Schuster), Lienemann (ein glatter Ausfall) und Vogel nicht wie gewohnt zum Zuge. Der Nationalmannschafts-Linksaußen unterzog sich wenigstens noch einem zufriedenstellenden Laufpensum. Er zwang die Belgier mit mehreren Schüssen zwar zu erhöhter Aufmerksamkeit, Unüberlegtheiten begingen sie deshalb aber noch lange nicht. [..]
(Günter Simon)
1. Runde - Europapokal der Landesmeister - Saison 1967/1968 Mittwoch, 20. September 1967, 15:30 Uhr Ernst-Thälmann-Stadion, Karl-Marx-Stadt Zuschauer: 45.000 Schiedsrichter: Howley (England)
FC Karl-Marx-Stadt T Hambeck A Rüdrich A Feister A P. Müller A A. Müller M Posselt M Kreul M Steinmann S Lienemann S D. Erler S Vogel
Trainer: Scherbaum
RSC Anderlecht T Vukasovic A Heylens A Plaskie A Hanon A Cornelis M Kialunda M Jurion M Devrindt S Mulder S van Himst S Puis